E. Vaupel (Hrsg.): Ersatzstoffe im Zeitalter der Weltkriege

Cover
Titel
Ersatzstoffe im Zeitalter der Weltkriege. Geschichte, Bedeutung, Perspektiven


Herausgeber
Vaupel, Elisabeth
Erschienen
Anzahl Seiten
348 S.
Preis
€ 39,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Heiko Stoff, Institut für Geschichte, Philosophie und Ethik der Medizin, Medizinische Hochschule Hannover

2002 hatte der Münchener Technikhistoriker Ulrich Wengenroth die These formuliert, dass in Deutschland während der zwei Weltkriege aus „ungeeigneten Rohstoffen Zweitklassiges“ produziert worden sei. Ersatzstoffe standen demnach für einen deutschen Sonderweg, der Innovationskultur auch in Friedenszeiten auf Ressourcenautonomie ausrichtete. Mit „Virtuosität in der Erzeugung von Ersatzstoffen“ sei der Anschluss an die technisch-wissenschaftliche Weltspitze aber nicht zu schaffen gewesen. Ersatzstoffwirtschaft bezeichnete Wengenroth dabei einflussreich als „Flucht in den selbstgebauten Käfig“ der „ideologischen und wirtschaftlichen Autarkie“.1 Dieses Postulat, das den Rückstandsdiskurs der Nachkriegszeiten reaktivierte, ist vielfach kritisiert worden, hat aber auch zahlreiche Forschungsarbeiten angeregt. Zuletzt ist dazu Günther Luxbachers Monografie über „Ersatzstoffe und neue Werkstoffe“ erschienen, in deren Einleitung sich der Berliner Technikhistoriker noch einmal explizit gegen Wengenroths These eines deutschen Sonderwegs der „Ersatzstoffkultur“ ausspricht.2

Auch der Sammelband „Ersatzstoffe im Zeitalter der Weltkriege“, der auf Beiträgen eines bereits im März 2014 am Deutschen Museum in München veranstalteten Workshops beruht, kommt an Wengenroths „Käfigthese“ nicht vorbei und wird sogar explizit als „Reaktion auf einen Aufsatz des Münchner Technikhistorikers Ulrich Wengenroth“ eingeleitet. Gefragt wird nach den Bedingungen, unter denen Ersatzstoffe während des Ersten und Zweiten Weltkriegs entwickelt wurden und welche langfristigen Folgen sich daraus ergaben. Waren diese Ersatzstoffe nur unwirtschaftliche Behelfslösungen oder gingen von ihnen längerfristig wirksame Impulse aus? Vorangestellt ist dem Band eine instruktive Überblicksdarstellung der Herausgeberin Elisabeth Vaupel, Chemiehistorikerin am Forschungsinstitut für Technik- und Wissenschaftsgeschichte des Deutschen Museums. Die folgenden sieben Aufsätze sind drei Themenfeldern zugeordnet, die exemplarisch den Ersatz für metallische und nichtmetallische Werkstoffe, Ersatzmöglichkeiten für wichtige Rohstoffe sowie Ersatzstoffe für Nahrungsmittel und Tierfutter darstellen. Während der Rezensent sich für die Einführung aus eigensinnigen Gründen auch eine Auseinandersetzung mit dem Stoffbegriff selbst gewünscht hätte, geht Vaupel genauer auf die Konnotationen des Nomens „Ersatz“ ein, das um 1900 im deutschsprachigen Raum das bis dahin übliche „Surrogat“ verdrängte. Surrogate standen im 19. Jahrhundert zunehmend für gewisse, auch „verfälschend“ eingesetzte Lebensmittelzusatzstoffe, aber auch generell für Produkte minderer Qualität. Vaupel erinnert zudem an die Kontinentalsperre und die Hungersnot der Jahre 1816/17, die auch als „Zeit der Surrogate“ bezeichnet wurden. „Ersatz“ wurde vor allem während des Ersten Weltkriegs zu einem Reizwort, das dann während des Nationalsozialismus vermieden und durch Wortschöpfungen wie „Deutscher Werkstoff“ oder „Deutsche Metalle“ „ersetzt“ wurde. Von fundamentaler Bedeutung ist dabei, dass es beim Ersatz sowohl um das Substitut als auch die Umstellung der Produktionsweise geht. Der Ersatzstoffbegriff umfasst die Stoffe ebenso wie die Verfahren, den Gebrauch ebenso wie die Herstellung.

Ersatzstoffe sind alternative Rohstoffe, Werkstoffe, Basischemikalien und Produkte mit jeweils unterschiedlichen Funktionseigenschaften. Mittels chemischer Synthese wurden im 19. Jahrhundert durchaus erfolgreiche Produkte wie Indigo, synthetische Salicylsäure und Vanillin hergestellt. Die kriegsbedingte Umlenkung der Stoffströme war bereits in Vorkriegszeiten vorbereitet worden, um das Kaiserreich tendenziell von importabhängigen Rohstoffen wie Kautschuk, Erdöl oder Baumwolle unabhängig zu machen. Während des Ersten Weltkriegs, den Vaupel als „Hochkonjunkturphase der Ersatzstoffe“ bezeichnet (S. 30), konnte auf dem Erfahrungswissen über die Herstellung verschiedener Surrogate aufgebaut werden. Tatsächlich wurden während des Krieges nur wenige wirklich neue Ersatzstoffe produziert. Entscheidend war der Ausbau von Syntheseverfahren wie die Kohlehydrierung und die Ammoniak-Synthese. Vaupel spricht auch von einer Katalysefunktion des Ersten Weltkriegs in wehrwirtschaftlich wichtigen Produktionsbereichen. Der Krieg kann so einerseits als „Fortschrittsmotor“ angesehen werden, wie Vaupel dies für die Wiedergewinnung wertvoller Lösungsmittel zeigt; anderseits wurde etwa bei der Gewinnung des Glycerins durch enzymatische Verfahren so unwirtschaftlich gearbeitet, dass in Deutschland nachhaltig Vorbehalte gegenüber der Biotechnologie geschürt wurden.

Der Technikhistoriker Helmut Maier stellt in seinem Beitrag den Ersatz des importabhängigen Kupfers während des Ersten Weltkriegs als Impulsgeber der Werkstoffinnovation dar. Während sich auf dem Markt langfristig nur wenige Produkte durchsetzten, arbeitete die Forschung seit der Zwischenkriegszeit an der Verbesserung der Legierungsqualitäten. Der im Zuge der nationalsozialistischen Kriegsvorbereitung forcierte Kupferersatz erwies sich als Innovationsschub für die Legierungsforschung, aber zunehmend auch für die Anwendung von Kunststoffen. Langfristig bedeutsam waren diese Ersatzprodukte als Teil einer innovativen und institutionalisierten Zusammenarbeit von Werkstoffprüfung, Metallforschung und industrieller Produktion. Ähnlich wichtig war der Ersatz der für die Stahlproduktion notwendigen hochprozentigen Manganerze, mit der sich der Duisburger Technikhistoriker Andreas Zilt befasst. Während des Ersten Weltkriegs wurde diskutiert, ob niedrige Mangangehalte bei der Eisen- und Stahlherstellung tolerierbar seien. Zusätzlich mussten alle Manganerze rationiert, manganfreie Desoxidationsmittel erforscht und die Förderung der heimischen Manganerzgruben intensiviert werden. Als im weiteren Kriegsverlauf Manganeinsparungen immer dringlicher erschienen, wurde die Versorgung mit Manganerzen auf die Aufarbeitung von Schlacken umgestellt. Zwar wirkte sich dies erheblich auf die Qualität des Stahls aus, hatte aber auch die Verwissenschaftlichung der Eisenhüttenkunde zur Folge. Im Nationalsozialismus wurden diese Forschungen wieder aufgegriffen und durch strikte Manganeinsparungen sowie die Ausbeutung ukrainischer Erzgruben flankiert, bevor man in den letzten beiden Kriegsjahren wieder auf die Verwendung von Manganschlacke zurückgriff. Der Chemiehistoriker Peter J.T. Morris widmet sich schließlich den Ersatzstoffen für Naturkautschuk, von denen der Synthesekautschuk Buna ausführlich historisch aufgearbeitet worden ist, fokussiert dabei aber auf zwei bereits vor 1914 entwickelte Ersatzstoffe: den Regenerat- sowie den Ölkautschuk. Zwar waren diese frühen Syntheseprodukte von nur schlechter Qualität, aber wichtig für die Etablierung einer Industrie zur Herstellung von synthetischem Kautschuk.

Elisabeth Vaupel hebt in ihrer Einführung hervor, dass der Verwissenschaftlichung der Werkstoff- und Verfahrenstechnik, wie sie 1917 im Kaiser-Wilhelm-Institut für Eisenforschung institutionalisiert wurde, von zentraler Bedeutung für eine Geschichte der Ersatzstoffe in Deutschland ist. Die Kriegssituation sorgte in Deutschland, aber auch in anderen europäischen Staaten für Verfahrensinnovationen. Der Technikhistoriker Manfred Rasch zeigt dies detailliert in seiner Studie, die sich mit Verfahren befasst, mittels derer aliphatische Kohlenwasserstoffe aus heimischer Kohle und nicht aus Erdöl gewonnen werden sollten. Während des Ersten Weltkriegs wurde zur Behebung des gravierenden Mangels an flüssigen Treibstoffen neben der Tieftemperaturverkokung vor allem auch Friedrich Bergius‘ Hochdruckhydrierung der Kohle eingesetzt. Wie Rasch rekapituliert, gelang es auf diesem Wege nicht, ausreichende Mengen flüssiger Treibstoffe für die Kriegsführung zur Verfügung zu stellen. Die Tieftemperaturverkokung erwies sich nur zur Herstellung von Schmierstoffen und -ölen als nützlich. Beide Verfahren zeigten sich unter Friedensbedingungen als eher unrentabel. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch der Historiker Sandro Fehr in seinem Artikel zum in Südamerika abgebautem Chilesalpeter, der als Quelle des gebundenen Stickstoffs zugleich als Düngemittel in der Landwirtschaft und Ausgangsstoff zur Herstellung von Explosivstoffen verwendet wurde. Durch die Errichtung von Anlagen zur Ammoniakoxidation konnte zunächst die Versorgung der Rüstungsindustrie mit Salpetersäure gesichert werden. Wie Fehr schreibt, erfolgte die marktfähige Umsetzung erst mit der Realisierung einer industriellen Massenproduktion im Rahmen der Kriegswirtschaft. Für die globale Stickstoffversorgung im Verlauf des 20. Jahrhunderts erwies sich vor allem das Hochdruckverfahren als höchst bedeutsam.

Wengenroth hatte nicht bezweifelt, dass Ersatzstoffforschung auch innovative Verfahrenstechniken hervorbringen könnte. Seine Polemik richtete sich gegen eine Werkstofffixierung, die nicht nach Marktgesetzen funktionierte. Für eine Widerlegung von Wengenroths These wäre es also wichtiger, vor allem jene Ersatzstoffe zu untersuchen, die sich auch in Friedenszeiten als konkurrenzfähig erwiesen haben. Dies leistet der Beitrag des Chemiehistorikers Claus Priesner, der sich in einer Mikrogeschichte den von den Chemikern und späteren Nobelpreisträgern Hermann Staudinger und Tadeusz Reichstein entwickelten Methoden widmet, das Aroma des Bohnenkaffees durch ein Syntheseprodukt zu imitieren. Schon im 18. Jahrhundert wurden koffeinfreie Alternativen zum teuren Bohnenkaffee wie der Zichorienkaffee hergestellt. Ende des 19. Jahrhunderts wurde der lebensreformerische Bedarf nach einem nahrhaften Kaffee durch ein Heißgetränk auf Gerstenmalzbasis befriedigt. Erst um 1900 wurde dann von Ersatzkaffee auch erwartet, dem echten Kaffee hinsichtlich seiner Inhaltsstoffe zumindest ähnlich zu sein. Hier schlossen die Arbeiten von Reichstein und Staudinger zur Gewinnung des Gesamtaromas des gerösteten Kaffees an. Ein entsprechendes Verfahren ließen sie 1925 patentieren. Das Ersatzprodukt kam wenige Jahre später als „Coffarom“ auf den Markt, wurde bis in die 1960er-Jahre verkauft und findet auch heute noch als Geschmacksstoff Verwendung.

In dem letzten Beitrag des Bandes befasst sich die Wissenschaftshistorikerin Ulrike Thoms mit der Verwertung von Schlachtabfällen, namentlich auch Tierkadavern, als Ersatzfutter für Tiere. Proteinreiches Fleischmehl wurde im 19. Jahrhundert auch für die Ernährung der Bevölkerung verwendet. Die Nutzung von Tierkörpermehl als Futtermittel wurde wiederum bereits vor 1918 legalisiert und erhielt einen bedeutsamen Anschub durch die Weltkriege. Die Tierkörperverwertung wurde erst in den 1970er-Jahren durch Importe billigen Fischmehls sukzessive vom Markt verdrängt. Seit den ersten BSE-Fällen Mitte der 1980er-Jahre setzte dann eine kritische Debatte ein, die 2001 für ein Verfütterungsverbot von Fleischmehl an Wiederkäuer sorgte. Thoms unterstreicht die katalytische Wirkung der kriegswichtigen Produktion von Tiermehl für die spätere Entwicklung der Futtermittelindustrie.

Wengenroth hatte bezweifelt, dass eine Ersatzkultur Bestandteil der modernen Konsumgesellschaft sein kann. Im Sammelband wird hingegen zentral auf Prozesse der Verwissenschaftlichung im Bereich der Werkstoff- und Verfahrenstechnik hingewiesen. Für Helmut Maier besteht der Modernisierungsschub durch die Ersatzstoffe „in der Transformation der Innovationskultur und der damit verbundenen Verwissenschaftlichung der Praxis“ (S. 125). Elisabeth Vaupel schlussfolgert dazu, dass die Ersatzstoffforschung sich bei aller Unwirtschaftlichkeit dennoch eher stimulierend und innovativ denn hemmend und bremsend ausgewirkt hat. Vor allem aber weist sie darauf hin, dass dem Ersatz historisch unterschiedliche Bedeutung zukommen kann. Dies gilt insbesondere für eine durch Umweltprobleme, Klimawandel und Tierrechte geprägte Gegenwart. Ersatz, so Vaupel, meine heute „die grundlegende Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft weit über die vieldiskutierte Energiewende […] hinaus“ (S. 72). So sind selbst die während des Weltkriegs gefürchteten Salatöl-Ersatzmittel mittlerweile als kalorienarme Diätlebensmittel wieder auf dem Markt. Gleiches gilt für den Ei-Ersatz, der für veganes Kochen und Backen angeboten wird. Eine innovative Ersatzkultur, dies wäre ein Zwischenfazit im „Käfigstreit“, ist eben dann sinnvoll, wenn der Markt sich verändert oder verändert werden muss. In diesem Sinne funktioniert der Sammelband vor allem auch als Rehabilitation der Ersatzstoffe selbst.

Anmerkungen:
1 Ulrich Wengenroth, Die Flucht in den Käfig. Wissenschafts- und Innovationskultur in Deutschland, 1900–1960, in: Rüdiger vom Bruch / Brigitte Kaderas (Hrsg.), Wissenschaft und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahmen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2002, S. 53–54, 55, 59.
2 Günther Luxbacher, Ersatzstoffe und Neue Werkstoffe. Metalle, Technik und Forschungspolitik in Deutschland im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2020, S. 19–20.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension